Mit vollständigem ROM zum Erfolg

Teil 3 einer Artikel-Serie aus dem Dr. Gottlob Trainingskonzept

von Dr. Axel Gottlob

Nahezu alle Publikationen zum Thema Krafttraining – aus sportlicher wie auch therapeutischer Richtung – bieten bei den Übungsbeschreibungen nur mangelhafte Infos über die jeweilige Benutzung der aufgeführten Muskeln bzw. Gelenke. Auch bei den meisten Trainingsplänen in Studios, Praxen und sogar Leistungszentren heisst es meist nur Übung für „Brust", „Rücken" oder bei „Bandscheibenvorfall". Ob die Arbeitsweise der beschriebenen Muskeln statischer oder dynamischer Natur ist, wird kaum näher beleuchtet (siehe Teil 2 in FT89). Die so wichtige Frage nach dem ROM der beübten Muskeln und Gelenke wird schliesslich vollends unterschlagen, obwohl sie elementar für den späteren Trainingserfolg ist!

Vollständiges ROM

Das ROM (= Range Of Motion) beschreibt den Bewegungsbereich (oder auch die Bewegungsamplitude) einer Trainingsübung in Bezug auf den zu trainierenden Muskel bzw. das beübte Gelenk. Man kann das ROM in Gelenk-Winkelgraden angeben. Ausgehend vom jeweils maximalen Bewegungsbereich lässt sich das ROM aber auch über den prozentualen Anteil der Bewegung bzw. der Muskel-Kontraktionsstrecke benennen. Würde man z.B. an einer Beinstreckmaschine die Bewegung zwischen 0 und 90° Kniewinkel einstellen, so würde das ROM für das Kniegelenk 0 bis 90° betragen bzw. der Quadrizeps (Oberschenkelstreckmuskulatur) über ca. 60% seiner maximalen Bewegungsamplitude belastet werden. Ein rein isometrisches Training schlägt natürlich immer mit einem ROM von 0° bzw. 0% zu Buche.

Im vollständigen ROM zu trainieren bedeutet nun, den Muskel über seine gesamte Kontraktionsstrecke - von maximal gedehnt bis maximal verkürzt - dynamisch zu belasten. In Bezug auf das jeweilige Gelenk hat bei einem vollständigen ROM-Training der Widerstand über die volle aktive Gelenkbeweglichkeit zu wirken. Unter aktiver Gelenkbeweglichkeit ist hierbei der gesamte Bewegungsbereich zu verstehen, der ohne Schwung allein mittels Muskelkraft der Agonisten/Antagonisten erreichbar ist. Die passive Gelenkbeweglichkeit hingegen ist immer grösser und nur mit Schwung oder durch äussere Kräfte, die in Bewegungsrichtung wirken, erreichbar.

So sind z.B. mit der klassischen Brustübung, dem Langhantel Bankdrücken nur ca. 65% der Bewegungsamplitude der mittleren Faserbündel des grossen Brustmuskels erfassbar. Erst eine Übung wie z.B. vorgeneigtes Kabelziehen gewährleistet ein weitgehend vollständiges ROM der mittleren Faserbündel des Pektoralis Major (Abb. 1).

Abb. 1 Amplitudenvergleich zweier Brustmuskelübungen
Bankdrücken (hellrot); vorgeneigte Kabelzugbewegung (dunkelrot)

Die Integration vollständiger ROM-Übungen in das Trainingsprogramm wird durch eine Reihe essentieller Vorteile belohnt (s. Tab.). Im Folgenden wird der Einfluss auf die passiven Strukturen näher erläutert.

  1. Differenziertere Aufbaureize der „passiven Strukturen"
  2. Zunahme der Muskelkraft über den gesamten Bewegungsbereich
  3. Verbesserte Koordination
  4. Beweglichkeitsverbesserung (u.a. Vorbeugung und Beseitigung etwaiger „Muskelverkürzungen")
  5. Maximale Schutzfunktion in den Gelenkendstellungen

Bedeutung des vollständigen ROMs für „passive Strukturen"

Durch ein längerfristig angelegtes Krafttraining mit ausreichend hohen Widerständen kommt es neben einer Muskelquerschnitts- und Kraftzunahme u.a. auch zu entsprechenden Aufbaureizen innerhalb der passiven Strukturen wie z.B. vermehrte Knochen-Mineralisierung, Kollagenfaserverdickung oder vermehrter Knorpelaufbau. Sämtliche an der Kraftübertragung beteiligten passiven Strukturen wie Knochen, Knorpelflächen, Bandscheiben, Gelenkkapseln, Bänder, Faszien und Sehnen reagieren hierbei auf überschwellige mechanische Belastungsreize mit entsprechenden Festigkeitsverbesserungen.

Diese Festigkeitssteigerungen erfolgen nun nicht pauschal sondern in Abhängigkeit der erfahrenen Belastungsgeometrie. Der Knochen verstärkt seine Struktur genau an den mechanisch erforderlichen Stellen, um diese regelmässig einwirkende höhere Kraft mit geringstem "Materialeinsatz" sicher ableiten zu können. Wird z.B. ein Wirbelkörper beim Krafttraining vermehrt axial also senkrecht von oben belastet, so bildet er eine Knochenbälkchenstruktur, die diese Belastung günstig und sicher ableiten kann (die Spongiosa richtet sich hierbei immer entlang der grössten Druck- und Zugbelastungslinien aus). Bei sowohl axialer als auch im Rahmen der Gelenkbeweglichkeit schräger Lasteinleitung, kommt es zu differenzierteren Reizen mit strukturierterer Knochenbälkchenausbildung (Abb. 2). Ein solcher Wirbelkörper (b) ist natürlich gegenüber höheren seitlichen Belastungen der Wirbelsäule widerstandsfähiger.

Abb. 2 Knochenbälkchenaufbau im Wirbelkörper
a) Spongiosa-Ausbildung bei vermehrt axialer Belastung
b) Spongiosa-Ausbildung bei axialer und schräger Lasteinleitung

Bandscheiben die auf maximale Drehung (Wirbelsäulenrotation) belastet werden, bauen zugfestere Kollagenfasern im Bandscheibenring (Anulus fibrosus) auf. Hierdurch steigt die Wirbelsäulenstabilität des bewegten Körpers insbesondere bei hohen Dynamiken. Rückenkonzepte die in ihrer Trainingsorganisation auf solche vollständigen ROM-Übungen verzichten, bieten langfristig nur eingeschränkte Stabilitätsverbesserungen der Wirbelsäule.

Bänder und Faszien erfahren erst bei vollständigen ROM-Übungen am jeweiligen Bewegungsende die für die Verstärkung relevanten Zugreize für die parallele Ausrichtung und Verdickung der Kollagenfibrillen. Auch die Festigkeit und Beweglichkeit der Gelenkkapsel hängt vom ROM der regelmässig erfahrenen Belastung ab. Mehrere klassische wie auch moderne Kraftübungen mit eingeschränktem ROM liefern bei ausschliesslicher Verwendung, systematische Kapselschrumpfungen mit damit einhergehenden Beweglichkeitseinbussen.

Die Knorpelflächen eines Gelenkpartners erfahren je nach Gelenkwinkel in einem bestimmten Bereich die höchste Druckbelastung. Nur wenn das Gelenk über seine volle Gelenkbeweglichkeit belastet wird, und somit alle Knorpelflächenabschnitte ausreichend hohe Druck-/Wechselbelastungen erfahren, kommt es zur Ausformung einer gleichförmig druckfesten Knorpelschicht. Im Alltag werden oft nur eingeschränkte Gelenk-Belastungsreize mit teilweiser lokaler Überlastung und insbesondere grossflächiger Unterforderung erfahren, mit den möglichen langfristigen Auswirkungen einer arthrotischen Gelenkveränderung. Aber auch ein Krafttraining mit eingeschränkten ROM-Übungen stellt hier keinen Ausweg dar. Bestimmte Knorpelabschnitte werden regelmässig belastet, und die nicht trainierten Bereiche erweichen und atrophieren. Eine so betriebene Gelenkwartung ist unvollständig und bietet im Hinblick auf eine Arthrose-Prophylaxe relativ wenig!

Nur durch ein Krafttraining mit integrierten vollständigen ROM-Übungen lassen sich vollverstärkte Strukturen aufbauen, die in Bezug auf alle physiologischen Gelenkwinkel eine erhöhte Festigkeit aufweisen. Beim Krafttraining in begrenzten Bewegungsabschnitten hingegen sind gerade die kritischeren Gelenkendpositionen mechanisch nicht so gut abgesichert! Da die passiven Strukturen für diese Belastungsgeometrien keine adäquaten Belastungsreize erfahren haben, resultieren entsprechend geringere Festigkeiten für diese Kraftrichtungen. Über vollständiges ROM trainierte passive Strukturen sind dagegen bei endgradigen Belastungen wie z.B. unerwarteten Bewegungen im Alltag oder im Sport - z.B. bei einem Sturz - widerstandsfähiger; ein eventueller Abriss, Bruch oder eine Überdehnung tritt überhaupt nicht, mit verminderter Auswirkung oder erst bei noch höheren Belastungen auf! Vollständige ROM-Übungen liefern nicht nur einen besseren Schutz, sondern bieten zudem eine alltagstaugliche Leistungssteigerung.

Evaluierung der Krafttrainings-Übungen in Fitnessanlagen

Nach Analyse diverser Fitness-Trainingspläne in mehreren Fitnessanlagen zeigte sich, dass weit über 80% der verwendeten Übungen als eingeschränkte ROM-Übungen bezeichnet werden müssen. Insbesondere die folgenden Muskelgruppen werden nahezu ausschliesslich bewegungseingeschränkt belastet: Hüftbeuger; Bauchmuskulatur; HWS-Muskulatur; Glutealmuskulatur; Quadrizeps; Unterarmmuskulatur und die schulterblattstellenden Muskelgruppen. Hier wäre ein Umdenken bei den jeweiligen Übungszusammenstellungen dringend geboten!

Trainings-Konsequenzen

Die Betonung dieses Artikels liegt auf dem „auch". Achten Sie darauf, dass Sie für die jeweiligen Gelenkbereiche und Muskeln auch vollständige ROM-Übungen anbieten. Natürlich haben auch teilamplitudige sowie isometrische Muskelschlingen-Übungen ihren Sinn. Je nach Zielsetzung und Anwendungsfall können diese sogar überwiegen, bzw. temporär ausschliesslich verwendet werden. Aber die Verwendung vollständiger ROM-Übungen darf aus den genannten Gründen keinesfalls vergessen werden!

Voraussetzungen für vollständiges ROM-Training

Um vollständige ROM-Übungen belastungsunkritisch durchführen zu können, müssen nun jedoch zwei Faktoren beachtet werden. Erstens darf es bei der Bewegungsausführung zu keinen Beschleunigungsphasen, wie abrupten Stopps, Schwungholen oder ähnlichem kommen. Zweitens dürfen sich die beteiligten Gelenke in keiner Zwangslage befinden. Im nächsten Teil dieser Serie lesen Sie alles über Zwangslagenanalysen.

Abbildungen aus: Gottlob, Axel: „Differenziertes Krafttraining mit Schwerpunkt Wirbelsäule"; Urban & Fischer Verlag; ISBN: 3-437-47050-7


Fitness Tribune
Nr. 90 / S. 62-63