von Dr. Axel Gottlob
Hat der Trainer in seiner Ausbildung die Basics mit Standard-Übungen und –Trainingsprogrammen hinter sich gebracht, und will er seine Mitglieder/Kunden schneller zu umfassenderen Erfolgen verhelfen, kommt er an einem Vollamplitudentraining nicht vorbei. In der letzten Kolumne (FT 90) wurde auf die vielen äusserst relevanten Vorteile eines Vollamplitudentrainings eingegangen, womit echte Problemlösungen und tiefgreifende Leistungsverbesserungen oft erst ermöglicht werden.
Ob nun eine einzelne Übung Qualitäten im Sinne eines Vollamplitudentrainings besitzt, lässt sich für das interessierende Gelenk bzw. den interessierenden Muskel, über die Muskelgeometrie und Gelenksmechanik präzise ermitteln (siehe FT89). So kann z.B. der mittlere Anteil des grossen Brustmuskels mit einem vorgebeugten Kabelziehen, nicht jedoch mit Bankdrücken vollamplitudig trainiert werden. Soweit so gut! Es stellt sich jedoch folgendes Problem: Nicht jede vollamplitudige Übung ist auch sicher praktikabel. Aus diesen Gründen werden im Trainingsbereich häufig einschränkende Kommandos vermittelt wie z.B. "Beine nie ganz strecken! Arme nie ganz strecken! Nicht ins Hohlkreuz gehen!" Diese generalisierten gut gemeinten Aussagen beschränken die Effektivität leider ganz erheblich – bestenfalls akzeptabel für das Heimtraining, für den Studiobetrieb jedoch ein Armutszeugnis. Damit nun ein Krafttraining – insbesondere im Fitnessbereich – über die volle Gelenk- bzw. Muskelbeweglichkeit möglich wird, benötigen wir die Berücksichtigung folgender 2 Sicherheitskriterien.
1. sind bei Übungsausführung hohe Bewegungsgeschwindigkeiten bzw. genauer hohe Beschleunigungen und abrupte Stopps zu vermeiden. Diese hierdurch erzeugten höheren Belastungen würden insbesondere an den maximalen Bewegungsumkehrpunkten gefährdende Dehnungsreize setzen.
2. ist für jede Übung eine Zwangslagenanalyse durchzuführen. Da beim Vollamplitudentraining jeweils die Endpunkte der aktiven Gelenkbeweglichkeit erreicht werden, bzw. der Muskel unter Last eine volle Dehnung erfährt, sind die beiden Bewegungsumkehrpunkte – also Start- und Endpunkt der Bewegung – belastungsseitig genauer zu betrachten.
1. Bewegungsende (Endposition der Gewichthebephase)
Nur wenige Übungen besitzen hier eine Zwangslage. Hierzu muss es in dieser Position zu einem vollständigen Abfall der Widerstandskurve kommen. Beispiel: Werden bei Bizeps-Curls nicht nur die Unterarme angebeugt sondern auch noch die Oberarme angehoben – der Bizeps beugt schliesslich auch das Schultergelenk – so würde die Hantel von allein nach hinten fallen. Das bedeutet Widerstand für den Bizeps = 0, kein Trainingsreiz, Zwangslagengefahr für Ellenbogengelenke und Trizeps.
2. Bewegungsstart (Startposition der Gewichthebephase)
Im Gegensatz zum Bewegungsende weisen relativ viele Vollamplituden-Übungen eine Zwangslage beim Bewegungsstart auf.
Eine Zwangslage beim Bewegungsstart ist immer dann gegeben, wenn:
1. ein Gelenkendanschlag erreicht wird und
2. die körpereigene Kraftkurve deutlich abfällt, wobei die von aussen wirkende Widerstandskurve ein hohes Niveau beibehält oder gar ihr Maximum erreicht.
In einer solchen Zwangslage erfährt der bewegte Körperteil eine hohe Kraft in Richtung Gelenkendanschlag. Berücksichtigt man weiter, dass der Muskel während des Trainingssatzes ermüdet, so wird deutlich, dass insbesondere bei der letzten Wiederholung die muskuläre Schutzfunktion vermindert ist. Eine erhöhte endgradige Belastung der passiven Strukturen ist die Folge. Bei hohem Trainingswiderstand oder geringer Übungserfahrung tritt dieser Faktor noch verstärkt auf.
Beim Bewegungsstart wird bei beiden Übungen der Gelenkendanschlag der Ellenbogengelenke erreicht. Die Widerstandskurve bei den Kurzhantelcurls fällt jedoch weitgehend ab, das wirkende Extensionsdrehmoment ist praktisch gleich null; eine Zwangslage liegt nicht vor. An der Armbeugemaschine hingegen wirkt eine konstante Widerstandskurve. Das bedeutet ein hohes Extensionsdrehmoment wirkt in Richtung Gelenkendanschlag. Die Kraft der Armbeuger ist in diesem Winkel jedoch gering, d.h. die körpereigene Kraftkurve fällt erheblich ab. Es liegt somit eine Zwangslage vor!
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Abb. 1 Zwangslagenanalyse zweier Armbeugeübungen beim Bewegungsstart [aus: Gottlob 2001] |
Bei mehrgelenkigen Übungen müssen wir natürlich für alle bewegungsrelevanten Gelenke eine Zwangslagenanalyse durchführen. Betrachten wir hierbei nur den relevanten Bewegungsstart (Abb.2):
Lat-Frontziehen ist somit weitgehend zwangslagenfrei, jedoch muss in der Startposition darauf geachtet werden, dass die Skapula nicht maximal angehoben wird, und bei weitem Fassen die Stange schräg ausgeformt ist.
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Abb. 2 Zwangslagenanalyse des Lat-Frontzugs beim Bewegungsstart [aus: Gottlob 2001] |
Liegt nun bei einer Übung eine Zwangslage vor, so sind entsprechende Konsequenzen zu ziehen:
Zwangslagenhaltungen sind jedoch teilweise auch explizit zu trainieren, z.B. weil diese Positionen im Alltag dynamisch vorkommen oder weil sie in bestimmten Sportarten erfordert werden. Hier empfiehlt sich folgendes gestuftes langfristiges Vorgehen zur Verbesserung der Koordination, der Sicherungs- und Leistungsfähigkeit in diesen Gelenkpositionen:
Abbildungen aus: Gottlob, Axel: "Differenziertes Krafttraining mit Schwerpunkt Wirbelsäule"; Urban & Fischer Verlag; ISBN: 3-437-47050-7